Eines meiner unbekanntesten Symptome heißt Hypervigilanz. Mein Kopf scannt permanent die Umgebung, die Menschen, die Stimmung. Ich prüfe ununterbrochen, ob irgendwo Gefahr lauert, ob jemand wütend ist, ob Ablehnung in der Luft liegt.
Am deutlichsten spüre ich das, sobald ich einen Raum betrete, in dem mehr als zwei Personen sind. Mein Körper reagiert sofort: erhöhter Herzschlag, innere Gespräche, Alarmbereitschaft. Ich kann erst entspannen, wenn mein System die Situation als „ungefährlich“ eingestuft hat. Vorher ist alles auf Beobachtung gestellt – jede Mimik, jede Stimme, jede Bewegung.
In Meetings passiert dasselbe. Auch bei Treffen mit Freunden. Für andere wirkt es vielleicht unsichtbar, für mich kostet es enorme Energie. Und wenn ich es nicht schaffe, die Umgebung als sicher einzuordnen, bleibt mein Körper im Alarmzustand.
Neurodivergente Menschen kennen das Scannen. Aber mit komplexer PTBS lässt es sich praktisch nicht mehr abstellen. Das Nervensystem ist darauf trainiert, dauernd wachsam zu sein. In Kombination mit extremer Reizoffenheit – also der Unfähigkeit, Geräusche oder Eindrücke auszublenden – ist es fast unmöglich, innerlich Ruhe zu finden.
Das hat Folgen: Ich kann nicht in Parks voller Menschen gehen, Konzerte sind für mich eine einzige Überflutung. Selbst kleine Gruppen können mich in diesen Zustand versetzen. Am wohlsten fühle ich mich dort, wo es fast keine Menschen gibt – auf einsamen Waldwegen oder nachts im Park, wenn alles still ist.
Das Fatale: Von außen wirkt diese Wachsamkeit schnell wie Misstrauen oder Überempfindlichkeit. In Wahrheit ist es ein Schutzsystem, das nie abschaltet. Und es erklärt, warum ich oft erschöpft bin, obwohl ich „nur da war“. Mein Gehirn arbeitet ununterbrochen im Hintergrund.
Hypervigilanz ist keine Stärke, kein Lifestyle, keine „Superpower“. Es ist ein Symptom – ein Erbe von Neurodivergenz in Kombination mit Trauma. Und es macht klar, dass Erschöpfung nicht immer durch das sichtbar Geleistete entsteht, sondern durch das, was unsichtbar im Nervensystem passiert.
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