Mein Sohn und ich sprechen beide Deutsch. Und trotzdem begegnen wir uns manchmal, als würden zwei Sprachen aufeinandertreffen, die sich nicht decken. Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen. Dass es nicht an der Wortwahl liegt. Nicht am Ton. Sondern am System dahinter.

Ich bin neurodivergent – ADHS, hochsensitiv, schnell, vernetzt, unruhig, bildhaft. Sprache ist für mich Bewegung, Rhythmus, Atmosphäre. Ich spüre, wie sie klingt, bevor ich weiß, was sie sagen soll. Ich kann Dinge gleichzeitig andeuten, fühlen, rückbinden. Sprache ist mein Raum.

Mein Sohn ist auch neurodivergent – aber anders. Autistisch. Klar. Präzise. Strukturiert. Für ihn ist Sprache eine Operationseinheit. Sie muss stimmen, definierbar sein, widerspruchsfrei. Er will, dass ich sage, was ich meine. Und dass ich dabei bleibe.

Das Problem: Ich denke in Rändern, er denkt in Linien. Ich sage „gleich“, und meine: vielleicht heute Abend. Er hört „gleich“ und wartet. Ich sage „später“, um mich nicht festzulegen. Er speichert: „später“. Ich überfordere ihn mit meiner Offenheit, er überfordert mich mit seiner Klarheit. Wir lieben uns. Und sind oft sprachlich voneinander getrennt.

Früher dachte ich, das sei ein Missverständnis. Heute weiß ich: Es ist ein Unterschied im System. Wir haben gelernt, Brücken zu bauen. Ich formuliere genauer. Er fragt nach, wenn etwas nicht eindeutig ist. Und manchmal treffen wir uns in einem neuen Raum – da, wo Sprache nicht stimmen muss, sondern genügt.

Neurodivergente Familien sprechen nicht automatisch dieselbe Sprache. Auch wenn sie dieselbe Diagnose tragen. Auch wenn sie dieselbe Geschichte teilen. Manchmal braucht es Jahre, um herauszufinden, wie man sich überhaupt hört.

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