Wenn man seine Neurodivergenz nicht nur als Hindernis, sondern als Teil der eigenen Ausstattung begreift, verschiebt sich etwas Grundlegendes. Führung bedeutet dann nicht mehr, die vermeintlichen Schwächen zu kaschieren, sondern mit dem eigenen Profil bewusst zu arbeiten.

Natürlich gibt es Herausforderungen. Ablenkbarkeit, Erschöpfung, Schwierigkeiten mit Struktur oder Priorisierung – all das ist real und begleitet uns jeden Tag. Neurodivergenz ist nicht nur schön. Aber wenn wir uns ausschließlich über diese Defizite definieren, verlieren wir etwas Entscheidendes: die Perspektiven, die uns ausmachen.

Denn dieselben Eigenschaften, die uns im Alltag anstrengen, können in der Führung zu Stärken werden. Muster sehen, wo andere nur Details erkennen. Ungewöhnliche Zusammenhänge herstellen. Intuitiv spüren, wann Menschen im Team überlastet sind. Schneller reagieren, wenn eine Krise droht. Resilient bleiben, weil man gelernt hat, in Überforderung trotzdem weiterzumachen.

Wer diesen Blick kultiviert, schafft nicht nur für sich selbst eine stabilere Grundlage, sondern auch für andere. Arbeitsumfelder, die für neurodivergente Menschen funktionieren, sind fast immer auch für alle anderen besser – gerade für jene, die mit Stress und Überlastung kämpfen. Weniger Reizflut, mehr Klarheit, weniger Druck, mehr Flexibilität.

Das ist keine romantische Umdeutung. Es geht nicht darum, Neurodivergenz ausschließlich positiv zu sehen. Sondern darum, sie ernst zu nehmen – in ihrer ganzen Ambivalenz. Sie ist nicht das, was man sich ausgesucht hat, aber es ist das, womit man arbeitet. Und dieser Perspektivwechsel tut auch der Seele gut. Weil er erlaubt, die eigenen Stärken genauso anzunehmen wie die eigenen Schwächen.

Wir sind diejenigen, die am meisten mit uns selbst sprechen – über den ganzen Tag verteilt. Wenn wir uns dabei nur als Defizit betrachten, geht das verloren, was uns ausmacht. Führung bedeutet auch, diese innere Stimme zu verändern. Und das kann der Anfang sein, um Räume zu schaffen, in denen nicht nur wir, sondern alle aufatmen können.