Neurodivergente Familiensysteme – zwischen Aufarbeitung und Neuanfang

von | Aug.. 2025 | ADHS

Illustration einer Familie: Eine Frau und ein Mann stehen links und rechts, sie halten jeweils die Hände eines Kindes in der Mitte. Die drei blicken sich zugewandt an, in ruhigen Blau- und Beigetönen dargestellt. Im Hintergrund sind kreisförmige Farbflächen.

Eine Diagnose verändert keine Vergangenheit. Sie macht die Jahre der Missverständnisse nicht ungeschehen, sie löscht keine Verletzungen und relativiert keine Traumata. Aber sie schafft Sprache, Kontext und Verständnis – und das ist in neurodivergenten Familiensystemen oft der entscheidende Unterschied.

Ich habe heute Morgen ein Video gesehen, das mich sehr berührt hat. Es zeigte, wie schwer sich ADHS-Mütter und ihre Kinder manchmal unterhalten können – weil immer jemand „unterwegs“ ist, geistig abdriftet oder den Faden verliert. Mir wurde bewusst: Hier prallen zwei Generationen aufeinander, die beide neurodivergent sind, aber aus ganz unterschiedlichen Perspektiven kämpfen.

Wir, die Elterngeneration, mussten uns erst mühsam erarbeiten, dass viele unserer „Eigenheiten“ keine Charakterschwächen sind, sondern auf ADHS oder Autismus zurückgehen. Wir haben gelernt, dass das ständige Unterbrechen, das Abschweifen, das Übersehen von Details nicht Ausdruck von Lieblosigkeit ist – sondern Ausdruck eines anderen Nervensystems. Und wir versuchen, uns selbst neu zu entdecken, nachdem uns jahrzehntelang erzählt wurde, wir seien „zu viel“ oder „nicht richtig“.

Gleichzeitig wünschen wir uns, dass unsere Kinder gnädiger mit uns sind. Dass sie sehen, wie sehr wir uns bemühen, sie zu verstehen, ihre Wahrnehmung ernst zu nehmen und ihre Grenzen zu respektieren. Dass sie erkennen: Auch wir sind Anfänger. Ich spiele zum Beispiel gerade Level 43 meines Lebens – und habe dieses Level noch nie zuvor durchgespielt.

Kinder kommen ohne Gebrauchsanleitung. Und die Erziehungsprinzipien, mit denen wir groß geworden sind, werden von unserer Generation gerade auf den Prüfstand gestellt, auseinandergenommen, neu zusammengesetzt. Was toxisch war, sortieren wir aus. Was tragfähig ist, nehmen wir mit. Aber dieser Prozess hat einen Preis: uns fehlen die Rollmodelle. Wir erfinden vieles zum ersten Mal, mitten im laufenden Spiel.

Manchmal wird unsere Generation, die Millennials, dafür belächelt. Aber wir sind diejenigen, die das Erbe der transgenerationalen Traumata sortieren, die Muster aufbrechen, die niemand vor uns benannt hat. Wir sind die, die zwischen den Stühlen sitzen – zwischen der alten Härte und der neuen Sensibilität – und trotzdem dafür sorgen, dass die nächste Generation gesünder aufwächst.

Es ist schwer. Es ist unvollkommen. Aber es ist ein Anfang.

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